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Eine ganz besondere Schulstunde

Präsentation der Masterarbeit zu Audiopädie

Von der Kraft des Hörens und der Kunst des Unterrichtens erzählt dieser Praktikumsbericht einer Masterabsolventin.

Praktika gehören ab dem ersten Studienjahr fest zum Lehrplan unserer Hochschule für Waldorfpädagogik. Diesen berührenden Bericht gab die angehende Klassenlehrerin Lisa van Holstijn im Rahmen der Präsentation ihrer Masterarbeit über Audiopädie. Sie hat ihn hier noch einmal für uns zusammengefasst.

Die erste Unterrichtsstunde: Chaos und Verzweiflung

In meinem letzten Studienjahr hat mich ein Thema besonders begleitet: das Hören. In der Pädagogik  "Audiopädie" genannt. Diese Kunst und Schulung des Hörens wurde von Reinhild Brass entwickelt und wurde auch zum Thema meiner Masterarbeit. Der Hauptgrund, warum ich mein Praktikum gerne an der Windrathertalschule machen wollte, war der Musikraum. Dieser Raum war bestückt mit unzähligen Gongs, Metallröhren, stehenden Harfen, Klangstäben, eisernen Glockenspielen, Zimbeln, Triangeln, einem riesigen Tamtam, gestimmten Steinen, Glasröhren und vielem mehr. Alle Metallinstrumente sind handgeschmiedet aus Bronze oder Eisen und sehr wertvoll. 

Ich war aufgeregt. Bevor ich richtig bereit war, kamen schon einige Kinder in den Raum gerannt. Als alle da waren, wollte ich mit einer Laufübung beginnen. Die Kinder sollten leise durch den Raum gehen, ihren hinteren Raum öffnen, einen imaginären Schleier hinter sich wehen lassen, spüren, die anderen wahrnehmen, schneller und wieder langsamer werden.
Doch zwei der Jungen hatten ganz andere Ideen. Sie taten genau das Gegenteil von dem, was ich sagte. Aus dem leise Gehen wurde ein lautes Stampfen. Sie lachten laut, redeten und fanden meine Unfähigkeit, ihr Verhalten zu beeinflussen, herrlich. Dieser Anfang steigerte sich. Bald flogen Säckchen durch den Raum. Zum Vergnügen der Hauptveranstalter hatte ein Säckchen sogar ein Loch, und die losen Bohnen flogen gegen das Tamtam. Bald klebte ein Junge am Fenster. Ich hatte ihn hinausgeschickt und jetzt machte er lustige Gesichter am Fenster. Alle lachten und schrien vor Spaß. In mir steigerte sich der Stress, sodass ich auch nicht mehr klar denken konnte. Alle Übungen wurden zum Witz. Die Kinder blieben bis zum Schluss unkonzentriert und verließen unzufrieden die Stunde. Ich war verzweifelt und fertig.

Die zweite Stunde: Verwandlung 

Mir war klar, dass ich für den Unterricht am nächsten Tag etwas ändern musste. Aber was? Vor allem hatte ich Angst vor den beiden Jungs. Innerlich hörte ich Reinhild Brass sagen: "Hör auf die auffälligen Kinder. Die haben oft das Wichtigste zu sagen!" Also beschloss ich, mit ihnen zu reden. Ein Junge sagte mir, dass er mehr Bewegung bräuchte. Auch bei dieser Aussage hörte ich innerlich Reinhild betonen, dass es in der Audiopädie vor allem auch um Bewegung geht.
Nach den beiden Gesprächen fühlte ich mich immer noch sehr unsicher. Aus Angst dachte ich daran, die Stunde abzusagen. Doch dann fasste ich mir Mut und beschloss, nur die Übungen zu machen, von denen ich ganz überzeugt war. Ich entschied auch, eine Schwelle zu schaffen, damit die Kinder zu Beginn nicht einfach in den Raum rennen konnten. Und ich beschloss, mit einem Kreis und einem Spruch zu öffnen und zu schließen.

Etwas wirkte wie ein Wunder. Nach dem Spruch begannen wir mit dem Bewegungsspiel, das einer der Jungen vorgeschlagen hatte. Er fühlte sich gehört, bekam die Bewegung, die er brauchte, und war von diesem Moment an integriert. Es folgten Momente tiefer Stille. Die Kinder wurden ganz wach. Ich sah, wie ihre Augen leuchteten und wie sie sich bei der Improvisation am Ende der Stunde staunend gegenseitig anschauten. Etwas Unhörbares wurde hörbar. Die Töne konnten neu gehört werden. Auch die Jungen konnten in einer heiligen Naivität sichtbar werden, die die Mädchen in Erstaunen versetzte. Am Ende der Stunde fragte eines der Mädchen den gestern noch so frechen Jungen: "Warum warst du heute so anders?" Er zuckte mit den Schultern.

Warum diese Stunde zu einer Sternstunde werden konnte, werde ich nie genau sagen können. Es wirken immer viele, auch unsichtbare Faktoren zusammen. Aber eines ist mir durch dieses Erlebnis klar geworden. Alles, was wir den Kindern sagen, muss ganz von uns durchdrungen sein. Sie wollen unsere Ich-Kraft spüren.
Wir müssen auch den auffälligen Kindern zuhören. Wenn sie ernst genommen und einbezogen werden, können ihre Vorschläge die ganze Gruppe auf eine neue Stufe bringen.